Man nennt diese Zeit Euphorie, aber das Wort wird so häufig benutzt und ausgehöhlt, man bräuchte eigentlich ein neues. Denn diese Momente sind selten. So selten, dass man auch als neutraler Fußballinteressierter lange suchen muss, um sie zu finden. Momente, in denen man das Gefühl hat, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. In denen man von allen Spielen, die gerade auf der Welt gespielt werden, kein anderes sehen möchte. Wer dieses Gefühl haben möchte, muss in diesen Wochen zu den Spielen des 1. FC Magdeburg fahren.

Man spürt es schon an den Menschen, die zum Stadion strömen. Es sind viele, rund 20.000, aber das ist es nicht. Es ist vor allem die Art, wie sie zum Stadion gehen. Strammen Schrittes, sie rennen fast, voller Vorfreude. Kein Trödeln, kein Zögern, keine Ablenkung. Man glaubt es zu spüren, die Leute wollen so schnell wie möglich zu ihrem Verein.

Der 1. FC Magdeburg ist im Sommer in die Dritte Liga aufgestiegen, mit den Würzburger Kickers und der Zweiten Mannschaft von Werder Bremen. Nur: Die Würzburger Kickers und die Zweite Mannschaft von Werder Bremen haben noch nie den Europapokal gewonnen und sind auch nicht dreimal Meister und siebenmal Pokalsieger geworden. Magdeburg schon, und das spürt man in jeder Sekunde des Abends, an dem ein 2:0 über den Chemnitzer FC die Tabellenführung bedeuten wird.

Am Stand, wo das Knobi-Baguette für 2,50 Euro verkauft wird, hängen vergilbte Stoffwimpel, die die Spitzenduelle der DDR-Oberliga ankündigen. Auf den Bierbechern steht etwas vom FDGB-Pokalsieger 1964, 1965, 1969, 1973, 1978, 1979, 1983 (FDGB = Freier Deutscher Gewerkschaftsbund). Wer den Becher dreht, liest, dass der 1. FC Magdeburg 1974 den Europapokal der Pokalsieger gewonnen hat. Dem damaligen Trainer Heinz Krügel stifteten Fans ein Denkmal vor dem Stadion. Im vergangenen Jahr wurde es enthüllt, seitdem wird der Matt Busby aus Oberplanitz vor dem Spiel von abergläubischen Fans getätschelt.

Die Geschichte steckt auch in den Gesängen. Stolz sind die Fans auf die Vergangenheit und neugierig auf die Zukunft. Stolz aber auch, weil sie es geschafft haben, nach einem Vierteljahrhundert im Amateurfußball wieder auf die Beine zu kommen, trotz Osten. Hier, in die Dritte Liga, gehören sie hin, mindestens.

Während in anderen Stadien ein Häufchen Ultras für Stimmung sorgt und der Rest der Zuschauer sich höchstens mal zum Torjubel von den Sitzen erhebt, während anderswo der Pöbel steht und die Lokalprominenz sitzt, sind die Menschen in Magdeburg kaum zu unterscheiden. Wer auf der Nordtribüne steht, könnte auch auf der Haupttribüne sitzen und umgekehrt. Alle machen mit.

Wenn es gilt, die Schals während der Vereinshymne in die Luft zu recken, recken alle die Schals hoch. Auch die Haupttribüne. Wenn rhythmisch geklatscht wird, klatschen alle. Auch die Haupttribüne. Beim obligatorischen "Steht auf, wenn ihr Clubfans seid!", steht die Haupttribüne geschlossener und schneller auf als anderswo. Und vor dem Spiel singen alle zusammen das Magdeburger Lied mit dem unschlagbaren Refrain: "Ist denn die Elbe immer noch dieselbe/fragt sich der Dom und wundert sich" So laut, dass einem noch auf dem Nachhauseweg die Ohren klingeln.

Beim Torjubel fliegt das Bier durch die Luft. Überall bilden sich Jubelknäuel, einige fallen um. Es kommt vor, dass Vater, Mutter und der ältere Bruder auf dem jüngsten Spross zum Liegen kommen. Ein Fan hält sich Minuten später das Knie und verzieht das Gesicht. Verletzt beim Torjubel, in der Allianz Arena eher unwahrscheinlich.

Auf dem Platz: ein Innenverteidiger, der auch die Tür einer Großraumdisco übernehmen könnte; ein Torjäger, der ohne Körper spielt, aber trotzdem trifft, auch an diesem Abend. Sonst langer Hafer, harte Zweikämpfe. Die Zuschauer spielen mit, gewinnen den einen oder anderen Zweikampf für ihre Mannschaft. Die Spieler wissen das. Nach dem Spiel stehen sie vor der Nordtribüne, fassen sich von hinten an die Schultern und tanzen eine Polonaise. Die ganze Nordtribüne, nein, das ganze Stadion, macht es ihnen nach.

Es ist gerade eine besondere Zeit in Magdeburg. Sie wird bald vergehen. In ein paar Monaten, vielleicht auch erst in einem halben Jahr. Die Mannschaft wird sich im Mittelfeld der Liga einordnen, wo sie hingehört, Heimsiege in der neuen Liga werden keine Sensation mehr sein. Es wird wohl nicht mehr das ganze Stadion klatschen und singen, sondern nur noch das halbe. Und die Leute werden sagen: Weißt du noch, im Sommer 2015? Das ist normal, kein Problem. Bis dahin aber: Auf nach Magdeburg!

 

Quelle: zeit-online.de

 

 

Abschlusstabelle:

PlatzMannschaftSpieleguvToreTordifferenzPunkte
1 SG Dynamo Dresden 38 21 15 2 75:35 40 78
2 FC Erzgebirge Aue 38 19 13 6 42:21 21 70
3 Würzburger Kickers 38 16 16 6 43:25 18 64
4 1. FC Magdeburg 38 14 14 10 49:37 12 56
5 VfL Osnabrück 38 14 14 10 46:41 5 56
6 Chemnitzer FC 38 15 10 13 52:46 6 55
7 SG S. Großaspach 38 14 12 12 58:47 11 54
8 FC Rot-Weiß Erfurt 38 14 8 16 47:50 -3 50
9 Preußen Münster 38 12 13 13 43:41 2 49
10 FC Hansa Rostock 38 12 13 13 42:48 -6 49
11 Fortuna Köln 38 14 7 17 56:69 -13 49
12 FSV Mainz 05 II 38 12 12 14 48:47 1 48
13 Hallescher FC 38 13 9 16 48:48 0 48
14 Holstein Kiel 38 12 12 14 44:47 -3 48
15 VfR Aalen 38 10 14 14 35:40 -5 44
16 SV Wehen Wiesbaden 38 9 16 13 35:48 -13 43
17 Werder Bremen II 38 11 10 17 42:56 -14 43
18 Stuttgarter Kickers 38 11 10 17 38:52 -14 43
19 FC Energie Cottbus 38 9 14 15 32:52 -20 41
20 VfB Stuttgart II 38 7 10 21 38:63 -25 31